In einer anderen Zukunft

Sylvia Englert

Katja sah in den Spiegel und lachte sich an, um zu sehen, ob die Falten in ihren Augenwinkeln schon tiefer geworden waren. Mist, sie sahen schon aus wie Ackerfurchen. Aber was Katja noch viel mehr ärgerte, war, daß der Mann, mit dem sie glücklich werden konnte, noch frei herumlief und sie noch nicht kennengelernt hatte. Manchmal machte sie der Gedanke fast verrückt, daß sie ihm vielleicht sogar schon begegnet war, irgendwo, in der U-Bahn oder in der Bibliothek oder wo auch immer. Aber er war ihr nicht aufgefallen und sie ihm auch nicht, und sie waren beide wieder getrennte Wege gegangen, ohne zu wissen, daß sie gerade die große Liebe verfehlt hatten….
Katja schüttelte den Kopf, verpaßte sich eine Schicht Lippenstift, griff ihren Rucksack und ging aus dem Haus. Sie hatte das Gefühl, daß es ein besonderer Tag war. Es war fast drei Monate her, seit sie sich von Daniel getrennt hatte, und es tat kaum mehr weh. Vielleicht war heute der Tag, an dem die Schmetterlinge in ihren Bauch zurückkehren würden…
An der S-Bahn-Haltestelle warteten schon einige Leute, darunter auch eine dickliche Frau, die mit nervtötend schriller Stimme mit sich selbst sprach. Katja tauschte einen Blick komischer Verzweiflung mit einem anderen Wartenden, der neben ihr stand. Er hatte ein breites Gesicht mit einem rötlichbraunen Schnurrbart und sehr nette Augen.
Die S-Bahn kam, und sie stiegen in verschiedene Abteile ein. Eine halbe Minute später hatte Katja den Mann schon vergessen.

In einer anderen Zukunft, von der Katja nichts ahnte, kamen sie ins Gespräch, und er fragte sie ein bißchen schüchtern, ob sie Lust hätte, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen. Sie sagte ja. Es wurde ein wunderschöner Abend. Franz war Ingenieur, er war liebevoll und zuverlässig. Nach ein paar Monaten heirateten sie. Erst viel später fand Katja heraus, warum er unbedingt noch im Dezember hatte heiraten wollen – dadurch kam er so bald wie möglich in die neue Steuerklasse. Als das Kind kam, mußte sie ihren Job aufgeben. Er fand das richtig so, er wollte keine Frau, die ständig außer Haus war. Mit Geld ging er so sparsam um, daß sie um jede Mark Haushaltsgeld betteln mußte. Als sie sich heimlich eine neue Jeans kaufte und er es herausfand, schlug er sie zum ersten Mal.

Katja stieg an der Hauptwache aus und entschied sich, sich bei Hugendubel ein neues Buch fürs Wochenende zuzulegen. Es war Freitag und ziemlich viel los, aber sie fand noch einen Platz in einer der Sitzecken und fing an, im neuen Buch von Phillipe Djian zu lesen. Sie saß ziemlich nah neben einem hageren jungen Mann ganz in Schwarz und stellte fest, als sie herüberschielte, daß er auch in einem Djian las, Blau wie die Hölle. Sie lächelte und vertiefte sich wieder in ihr Buch.

In einer anderen Zukunft, von der Katja nichts ahnte, fragte sie: „Ach, Sie lesen ja auch Djian. Gefällt´s Ihnen?“ Der andere schaute überrascht auf. „Ja, ich bin einer seiner Fans der ersten Stunde…“ Sie unterhielten sich noch eine Weile und beschlossen, noch zusammen im Café Karin etwas zu trinken. Es blieb nicht das letzte Treffen. Manchmal gingen sie in eine Cocktailbar oder zu einer Lesung, aber oft kuschelten sie einfach nur stundenlang. Andy hatte einen trockenen, ironischen Humor, den Katja sehr mochte, und ihr gefiel auch seine unstillbare Neugier auf das Leben. Als ihnen klar war, daß sie zusammen bleiben würden, mieteten sie eine Wohnung in Bockenheim und kauften sich quer durch den IKEA-Katalog. Die Jahre vergingen, und sie freuten sich immer noch aufeinander, auch wenn sie bei den Nachbarn für ihre dezibelstarken Verbalduelle berüchtigt waren. Wenn sie ihren Jahrestag feierten, sagte Andy manchmal: „Na, was ein Glück, daß du mich damals angesprochen hast…“

Katja bezahlte ihr Buch an der Kasse, verließ Hugendubel und tauchte ab in die U-Bahn. Von zwei bis vier war eine Vorlesung über Clemens Brentano dran. Sie war ein bißchen zu spät und der Hörsaal war gepackt voll. Katja ging den Gang hinunter und sah sich suchend um. In der vorletzten Bank war noch ein leerer Platz, aber sie wollte nicht so weit hinten sitzen. Sie ging langsam weiter nach vorne….

In einer anderen Zukunft, von der Katja nichts ahnte, entschied sie sich für den Platz in der vorletzten Bankreihe. „Ist hier noch frei?“ fragte sie den blonden Typen auf dem Sitz daneben, und er blickte auf und nickte. „Warst du das letzte Mal da? Was habt ihr denn gemacht?“ fragte er. Der Prof kam mal wieder zu spät, und sie begannen, noch ein bißchen über ihn zu lästern. Sie verstanden sich auf Anhieb. Nach der Vorlesung gab sie dem Blonden ihre Nummer.
Stefans Wohnung war ein gemütliches Chaos, und sie liebten sich zwischen herumliegenden Kleidern, Bücherstapeln und leeren Chipstüten. Mannomann, zwei Tage zusammen und schon völlig verknallt, dachte Katja, als sie nach dem Orgasmus an die Decke blickte und die weiche Haut seines Rückens streichelte. Als sie mit einem verträumten Lächeln aus seiner Wohnung kam, stand vor der Haustür eine hochschwangere Frau und ein junger Mann mit Lederjacke, kurzen dunklen Locken und verschlossenem Gesichtsausdruck. Sie wollten anscheinend gerade auf Stefans Klingelknopf drücken, als Katja herauskam.
Die dunklen Augen der Frau blitzten wütend. „Wo ist das Schwein, wo ist es!“
Katja wollte sich an ihr vorbeidrücken, aber die Frau packte sie grob am Arm. „Ach, du bist wohl seine Neue, was?“
Inzwischen hatte Stefan mitbekommen, daß etwas vorging. In Jogginghosen und mit verstrubbeltem Haar kam er vor die Tür. Als die Frau ihn sah, stürzte sie sich auf ihn. „Hau ab!“ rief Stefan und stieß sie zurück. „Pack dich mit deinem Balg, das ist bestimmt nicht von mir!“
„Und ob das von dir ist, du Arschloch!“ sagte der junge Mann heiser, und plötzlich blitzte etwas in seiner Hand auf.
„Scheiße!“ schrie Katja und wollte in die Wohnung zurücklaufen, um die Polizei zu rufen. Sie schob sich gerade an den beiden Männern vorbei, als der Typ mit der Lederjacke zustach und Stefan hastig zurückwich. Katja spürte ein Kitzeln am Hals, das schnell zu einem furchtbaren Schmerz wurde. Blut pumpte aus einer Ader und spritzte zwischen ihren Fingern hervor, als sie sich an den Hals faßte. Sie sackte zusammen. Hilflos spürte sie, wie sie schnell schwächer wurde, weiße Punkte begannen vor ihrer Netzhaut zu tanzen….

Ein Mädchen, das durch den vorderen Eingang gekommen war, schnappte sich den freien Platz in der vorderen Bankreihe. Katja seufzte und drehte um, um sich doch in die vorletzte Reihe zu setzen. „Ist hier noch frei?“ fragte sie den blonden Typen auf dem Sitz neben dem leeren Platz, und er blickte auf und nickte.
„Warst du das letzte Mal da? Was habt ihr denn gemacht?“ fragte er. Katja gab ihm schnell eine Zusammenfassung.
„Was für ein Glück, daß unser guter Pawlak mal wieder zu spät ist“, meinte der Blonde. „Er schäkert wahrscheinlich noch mit seiner Sekretärin.“
Katja grinste. „Und dann schaut er zufällig auf seine Uhr und denkt sich: War da nicht irgend was…?“ Sie schaute zu dem Blonden hinüber und stellte fest, daß er ein tolles Lächeln hatte. In den könnte ich mich verlieben, dachte Katja ein bißchen nervös, als sie sich über ihre Notizen beugte.

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